Tatort

“Polizeiruf 110” Halle: Trinken, um zu vergessen

Bachkantaten und Kreuzigungsposen: Der zweite "Polizeiruf" aus Halle über den Mord an einer Schülerin kommt sehr gravitätisch daher.

"Polizeiruf 110" Halle: Henry Koitzsch (Peter Kurth, links) und sein Partner Michael Lehmann (Peter Schneider) auf dem Schulhof
Henry Koitzsch (Peter Kurth, links) und sein Partner Michael Lehmann (Peter Schneider) auf dem Schulhof © MDR/​filmpool fiction/​Felix Abraham

Der Polizeiruf Halle ist wieder da. Vor drei Jahren wurde in der Saalestadt ein Spezialabenteuer zum 50. Jubiläum der Krimireihe gedreht, die lange Schauplatz für die Ermittlungen von Schmücke, Schneider und später Lindner war. Nun liegt eine weitere Folge vor mit dem Titel Der Dicke liebt (MDR-Redaktion: Meike Götz). Sie stammt vom selben Gespann wie die erste: Thomas Stuber hat Regie geführt und gemeinsam mit Clemens Meyer das Drehbuch geschrieben. Erkennen kann man das auch, ohne die Credits im Vorspann zu lesen: Hieß die erste Folge nach dem Volkslied An der Saale hellem Strande, ertönt dieses jetzt gegen Ende des Films: Identitätsmarketing.

In Der Dicke liebt geht’s ans Allereingemachteste im Gefühlshaushalt – die Drittklässlerin Inka Werner (Merle Staacken) wird vermisst, ihre Leiche dann in einem Kleingarten gefunden. Die dort abhängenden Obdachlosen wie Rainer (Thomas Gerber) kommen so wenig infrage wie jemand aus Inkas Familie. Letzteres findet Kommissar Henry Koitzsch (Peter Kurth) durch eine kalkulierte Provokation heraus, von der Kollege Michi Lehmann (Peter Schneider) nicht so begeistert ist – Koitzsch fragt den Inka-Vater (Matthias Walter) nach Männern aus dem familiären Umfeld, die Inka nahegekommen sein könnten, was den Inka-Vater so erbost, dass die Unschuld als erwiesen gilt.

Bei der Tätersuche wird Jonas Zeitler (uncreditiert) aufgesucht, der schon wegen sexueller Belästigung Minderjähriger aufgefallen war und sich in seiner Wohnung verbarrikadiert hat, um dem Sexualdrang durch Selbstbefriedigung nachzugehen. Die wird – und das könnte fast was Komisches haben, tritt aber vor allem im Kostüm der “Wir trauen uns was”-Krassheit auf – als “wichsen” beschrieben, sechsmal. Komik ist im Kontext der Geschichte natürlich schwierig, könnte aber der Entlastung dienen (und ein wenig hat der Dialog mit Zeitler schon auch die Funktion des comic relief). Aber dazu bräuchte es auch mal Tempo; Der Dicke liebt ist eher statuarisch, gravitätisch inszeniert.

Das mit den Verdächtigen ist aber sowieso nur Beiwerk, weil der Titel der Folge mit dem Finger von der ersten Minute an auf eine Figur zeigt – Inkas Mathelehrer Krein (Sascha Nathan). Denn der bringt “ein ziemliches Gewicht” mit, wie der Rechtsmediziner (Andreas Leupold) bei seinen Untersuchungen an der Leiche des Mädchens festgestellt hat. Und: Der Lehrer ist lieb zu seinen Schülerinnen, bringt etwa die Juli (Romy Miesner) nach Hause und kauft ihr ein Eis, als bereits alle Eltern in Alarmbereitschaft versetzt sind wegen Inkas Verschwinden, und in seiner Wohnung gibt es eine beeindruckende Stofftiersammlung (Szenenbild: Jenny Roesler). Irgendwann steht auch an der Tafel in der Schule: “Der Dicke liebt Juli”.

Weil es aber wiederum zu einfach wäre, dass der Folgentitel die Lösung des Falls verrät, werden kurz vor Schluss durch die Erinnerung an einen ähnlich gelagerten Altfall zwei Jungs von der Oberschule um die Ecke aus dem Hut gezaubert: Mike (Florian Geißelmann) und Wilhelm (Jona Levin Nicolai). Den Altfall erzählt Leutnant Grawe (Andreas Schmidt-Schaller), der als Reminiszenz an die DDR-Jahre des Polizeirufs schon beim letzten Mal dabei war. Dort wurde er als Schwiegervater von Michi Lehmann eingeführt, nun feiert er als Freund und alter Kollege den Tag der Volkspolizei mit dem Rechtsmediziner in der Rechtsmedizin, bei Bier und Smashhits aus der alten Zeit.

Unterfüttert wird die Grawe-Geschichte durch die Parallelermittlung von Michi Lehmann in einem Altenheim, wo der Kommissar einer dementen Bewohnerin (Monika Lennartz) den Hinweis auf die beiden Jungs aus der Erinnerung kitzelt. Spannungsmäßig macht der Film es sich damit aber ziemlich leicht, denn die beiden betreffenden Jungs werden schon in die Erzählungen der Kommissare hineinbebildert, sodass die Polizei auf dem Oberschulpausenhof dann zielstrebig die Richtigen verhaften kann.

Dabei wäre das eigentlich ein eigener Film: Wie findet man zwei Jungs im Heuhaufen, den eine Schule mit sehr vielen Jungs darstellt? So fällt Der Dicke liebt als Krimi deutlich ab im Vergleich zum ersten Fall, in dem – von mir damals vielleicht etwas zu wenig gelobt – die Rätselhaftigkeit eines komplett banalen Mordes (jemand wird vor dem Eingang zu einem Haus getötet) originellerweise rätselhaft bleiben konnte, weil die Aussagen aller Zeuginnen oder Verdächtigen so unzuverlässig schienen.

Gilt – auch wegen seiner Körperlichkeit – als verdächtig: der Lehrer Krein (Sascha Nathan) © MDR/​filmpool fiction/​Felix Abraham

Verwunderlich ist das Desinteresse am Kriminalfall in diesem Polizeiruf nicht. Denn Der Dicke liebt will eh lieber etwas über Gesellschaft erzählen, und dafür wählen Stuber und Meyer den breitesten Pinsel. Die Erzählung wird ins Theologische geweitet (bei Michi Lehmanns Familie wird mit Kreuz an der Wand gebetet; Inkas Leiche wird zu den Klängen der Bachkantate Ich ruf zu dir, Herr Jesu gefunden, und Krein posiert in Kreuzigungspose vor der Neubauhauswand). Die Obdachlosen sind entweder kindisch oder müssen ihren Rausch ausschlafen, und Mike und Wilhelm sind schon am Namen als armer Mitmacher und reicher Bully zu erkennen, wobei der reiche Junge am Ende dem armen die Tat in die Schuhe schieben will.

Vor allem aber wird die Unbeholfenheit von Mathelehrer Krein, der von einer neonazistischen Bürgerwehr geschlagen und drangsaliert wird, dick herausgestrichen. Sascha Nathan muss nicht nur einen Fatsuit tragen, sondern auch noch die unpassendste Kleidung (Kostümbild: Juliane Maier), damit er noch unattraktiver rüberkommt. Außerdem hat ihm die Maske (Marika Knappe) schlechte Haut geschminkt, und er schwitzt, weil Summertime ist in Halle (der Song wird am Ende zelebriert). All das zusammen soll Mitleid erregen, soll zeigen, wie falsche Verdächtigungen, Hass und Gewalt einen Menschen in den Tod treiben – Krein springt im ewig langen Finale noch aus dem Fenster, weil ihm die Kommissare den erlösenden Satz (“Wir haben die richtigen Täter”) vorenthalten.

Die Mathelehrerfigur ist ein gutes Beispiel dafür, wie knifflig das mit der Repräsentation in Filmen ist. Da soll – vermutlich aus besten Absichten – ein bemitleidenswerter Mensch als Opfer dargestellt werden, was aber so sehr übertrieben wird, dass der Eindruck entsteht, der Film habe eine gewisse Lust daran, sich in der Opferhaftigkeit der Figur zu suhlen. Mit anderen Worten: Man kann hier beispielhaft sehen, was othering ist.

Source: https://www.nbcnews.com/

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